Joggeliumzug

Bürger- und Schützenorganisation vor einem halben Jahrtausend – oder Joggeliumzug in Lenzburg

Als interessante Ergänzung unserer Gesellschaftsgeschichte zeichnet im nachfolgenden Artikel der ehemalige Lenzburger Bezirkslehrer Georges Gloor die Entstehung unserer Schützen­gesellschaft und der Schützenvereine ganz allgemein um die Mitte des 15. Jahrhunderts auf. – Dass dabei auch eine Erklärung für die heutige Form unseres Joggeliumzuges gefunden wurde, dürfte Sie vielleicht interessieren.

  Joggeli Lied "Hudihudiha"

Stifter der Lenzburger Bruderschaft war der aus einem angesehenen Stadtbürgergeschlecht stammende Staufbergpfarrer Johannes von Lo. Wenn das knapp gefasste Aktenausgangsregister der Konstanzer Bischofskanzlei (heute in Freiburg im Breisgau) als Bruderschaftspatronin zunächst Maria verzeichnet, so offenbar deshalb, weil man in geistlichen Stiftungsurkunden oft die Muttergottes ehrenhalber dem Titelheiligen voranstellte. Nebenpatron unserer Wolfgangsbrüder war der Büchsenmacherheilige St. Antonius (der Eremit), der auch in der eidgenössischen Schützenfestverordnung von 1504 als Nebenpatron der Schützen figurierte. Dass sich die Lenzburger nicht wie ihre Schützenbrüder in Baden, Brugg, Aarau und Olten unter den Schutz St. Sebastians stellten, mochten zwei Gründe haben: Einerseits passte der spezifische Schutzpatron besser in jene Städte mit einer Mehrzahl von Spezialbruderschaften, anderseits war die in Lenzburg zuständige Pfarrkirche weit ausserhalb der Stadtmauern und damit der ländliche Herden- und Hirtenpatron St. Wolfgang durchaus am Platze; an der Südmauer des Staufbergkirchleins, westwärts an die rechte Chorwand anschliessend, wurde der Wolfgangsaltar geistlicher Mittelpunkt der Bruderschaft.
Geselliger Treffpunkt wurde das städtische Bruderschaftshaus am Standort der heutigen Stadtbibliothek, wo sich die Wolfgangsbrüder nach vollbrachtem Werk zu einer frohen Tafelrunde unter dem Vorsitz ihres Meisters trafen. Als solcher dürfte vorerst der Stifter geamtet haben, war doch später sein Pfarramtsnachfolger, der aus Baden gebürtige Dekan Hans Fry, ebenfalls Bruderschaftsmeister. Das Amt des «St.-Wolfgangs-Pflegers» (Kassier) versah 1480 Hans Mörker, Pfarrer im nahen Ammerswil.

 

Das sömmerliche Schützensemester begann mit der traditionellen Waffenmusterung am 1. Mai und endete am Festtag des Bruderschaftspatrons (31. Oktober), dem Vorabend von Allerheiligen, mit einem «Chrüzgang» (Prozession). Dieser führte neben dem Stammlokal durchs südliche Stadttor, westwärts über den «Mülistäg» – so sagt das Joggelilied – empor zum St. Wolfgangs­altar auf dem Staufberg.

Um sich brüderlich zu ähneln, vermummte man sich, wie es in Bruderschaftsprozessionen und am Joggeliumzug noch heute üblich ist. Das Joggeln wird in Wörterbüchern allenthalben als Narrentreiben bezeugt und wurde etwa in Aarau und Zofingen von eigens dazu bezeichneten Narrenbruderschaften praktiziert. Verulken die «Joggel» oder «Gäuggel» sogar kirchliche Zeremonien (wie etwa die Messe mit dem «Schällebueb», dem «Halleluja» und «ite missa est» des Joggeliliedes), so provozierten sie zwar wiederholt Proteste höchster kirchlicher Autoritäten, doch mussten sich diese in allen Ländern mit dem närrischen Brauch­tum ebenso abfinden wie etwa ein Dozent mit der Imitation seiner Stimme am Studentenfest oder ein militärischer Vorgesetzter mit gepfefferten Schnitzelbänken des Kompanieabends: Stets siegt das Bedürfnis, sich in seltenen Feststunden entspannungshalber der anerkannten Alltagsautoritäten zu entziehen.

Vor diesem alljährlichen Herbstfest in der Heimatstadt besuchte man gelegentlich auswärtige Schiessanlässe, etwa in Basel, wo seit 1471 Herbstmessen stattfanden, deren Gabenschiessen mit einer Lotterie finanziert wurden. Von insgesamt 25 Baselfahrern aus Lenzburg liess im zweiten Messejahr ein Uli Hönsch mit St. Wolfgang seinen Verein am Loteriegewinn teilhaben. Am selben Glücksspiel beteiligte sich zusammen mit drei Angehörigen auch ein Juncker, der seit über hundert Jahren auf dem Schloss eingemieteten Truchsessenfamilie; derselbe stiftete elf Jahre später auf dem Staufberg, gegenüber dem Wolfgangs­altar, eine schöngeformte Kanzel. Ans grosse Zürcher Freischiessen von 1504 reisten 75 Lenzburger, also genau dreimal soviel wie einst nach Basel. Einer von ihnen, der Büchsenschütze Hans Meyer, erzielte mit 28 Schüssen zehn Treffer, neun mehr als als ein St. Galler Schützenbruder, der in der Lotterie auf «seinen St. Wolfgang an der Hundwilerstrasse gesetzt hatte».

Zweierlei erwähnen erstmals die Akten von 1523: Für den «Gabentempel» eine der beliebten obrigkeitlichen Tuchspenden (Hosenstoff à Hosenmann) an das Lenzburger Schützenkollektiv – in der Vorstadt das Haus des Bruderschaftskaplans Markus Spengler, der damals militärisch aufgeboten wurde und dessen Mannhaftigkeit sich acht Jahre später bestätigte, als er zwischen Lenzburg und Hendschiken zwei Wegelagerer erschlug. Schon 1525 erreichte auch die schon längst schwelende revolutionäre Unrast ihren Gipfel: Das Landvolk verweigerte das im Joggelilied glossierte «brav Zähnte gäbe», worauf die Obrigkeit den Lenzburger Landvogt veranlasste, die Widerspenstigen zu verhören. Wenige Monate nachdem die Lenzburger umsonst versucht hatten, den Bruderschaftsaltar in die inzwischen zur Pfarrkirche beförderte Stadtkapelle überzuführen, wurde er vom Lenzburger Chirurgen Gottfried Zubler zerlegt und die Wolfgangs-Figur wurde mit den übrigen Heiligen-bildern unweit der Staufbergkirche eingeäschert.

Im folgenden Jahr – anfangs Juli 1529 – wurde auch das Bruderschaftshaus verkauft. Bereits einige Wochen zuvor waren die jährlichen Naturaleinkünfte auf die Armenpflege übertragen worden, welche die Aufgaben der bruder­schaftlichen Sozialhilfe weiterführen musste. Eine nette Begegnungs­stätte erstand den Schützen drei Jahre später mit dem Hausbau an der Badener Landstrasse. An den Weg zwischen den beiden alten Bruder­schaftszentren – Stammlokal und Staufberg – erinnert nur noch der Joggelivers am Mühlesteg.

Dagegen blieb das vorreformatorische Prozessionsbrauchtum im Joggeliumzug des früher sogenannten «Wolfgangsmonat» Oktober weitgehend erhalten, obschon man es später missverstand, indem man das herbstliche «Joggeln» fälschlicherweise auf den sommerlichen Jakobstag (25. Juli) der zweiten Villmergerschlacht (1712) bezog und dabei übersah, dass sich 1712 die kritischen Liederverse über den Kirchzehnten nicht gegen die konfessions-reformierten Zehntbezüger gerichtet hätten; zudem wurde die älteste der gegenwärtigen Umzugsschellen schon 31 Jahre (1681) vor jener Villmergerschlacht verfertigt; als früheste Erwähnung des «Hudihudiha» hat man freilich bisher in den Schützenakten bloss einen Eintrag aus dem letzten Jahrhundert entdeckt.

Von den 65 Jahren (1464 – 1529) Bruderschaftgeschichte künden indessen ein Dutzend Lenzburger, ein halbes Dutzend Freiburger (i.Br.), je zwei Berner und Aarauer Archivnotizen sowie eine in Basel.
Am 26. September 1464 wurde die Stiftung einer Lenzburger St.-Wolfgangs-Bruderschaft und am 8. Juni 1465 die einer Badener St.-Sebastians-Bruderschaft amtlich bestätigt. Von St. Wolfgang berichtet die Legende, dass er durch Zielwurf eines «Hackels» (Wurf­axt) sein Einsiedeleigrundstück abgrenzte, von St. Sebastian, dass er Ziel tödlicher Pfeilschüsse wurde. «Wolfgangihackel» und «Sebastianipfeil» wurden zwei Amulettformen, denen der Volksglaube gleichartige Abwehrkräfte zuschrieb, und es lag somit nahe, Wehrorgane in Lenzburg und Baden unter den Schutz des zielenden und des angezielten Heiligen zu stellen. Geistlich patronierte Bruderschaften waren übrigens vor der Reformation in mittelgrossen und kleineren Städten die einzigen Korporationen, die sich um Berufsanliegen, Gesellschaftsanlässe und Sozialhilfe bemühen durften.

Diese Bruderschaftsvereinigungen bildeten einen allgemeinen organisatorischen Überbau, denn ausser den Schützen umfassten sie auch männliche und weibliche Passivmitglieder, ja man zahlte sogar Mitgliederbeiträge für verstorbene Angehörige, damit die Bruderschaft für deren Seelenheil Gebetsgottesdienste veranstaltete.